Berlin – Mitte – ein Reisebericht
Dieses besondere Flair dauert bis lange in den Herbst hinein, künstlich am Leben gehalten durch Heizstrahler, Wolldecken oder provisorische und durchsichtige Wintergärten und Abhängungen. Anfang / Mitte November besiegt dann der kalte Berliner (Ost-) Wind, der gefühlt immer wesentlich kälter ist, als es das Thermometer anzeigt, endgültig den verlängerten Traum von Sommer und Wärme. Der ungastliche Wind treibt die Menschen von den Strassen und Plätzen in die Wärme der Kneipen, Bars, Museen, kleinen und großen Einkaufsparadiese und sogar in eine der vielen Dome und Kirchen. Wir Teilzeitberliner fahren zwar weiterhin trotzig mit dem Fahrrad durch die Gegend, werden aber langsam, aber sicher zu einer vermummten Minderheit im Verkehrsgeschehen.
Nichtsdestotrotz haben uns die Fahrradfahrten im Herbst durch die Mitte Berlins ein farbenprächtiges Schauspiel geboten, einen „Indian Summer a la Berlin“. Das Farbenspiel und die Farbenvielfalt der Laubbäume waren in diesem Herbst 2008 auf den Strassen, Plätzen und Parks der Stadt besonders eindrucksvoll, teilweise sogar sensationell. Bei diesen Fahrten durch das herbstliche Berlin fiel uns erst so richtig auf, wie viele Bäume in Berlins Strassen stehen, die das Leben von Frühling bis Herbst verschönern. Besonders faszinierend fand ich die herbstliche Veränderung im Regierungsviertel, das sich im Sommer imposant, aber auch ziemlich nüchtern darstellt. Jetzt herrschen die warmen, bunten Töne vor, die dem Zentrum der Macht einen menschlichen, fast romantischen Anschein geben, vor allem, wenn sich der blaue Himmel und die Farben in den Glasfassaden spiegeln und vervielfältigen. Fast ein Naturschauspiel stellt das herbstliche Kanzleramt, vom Wasser aus gesehen, dar, wenn sich der rote wilde Wein, das vielfarbige Buschwerk und der Efeu an den Beton anschmiegen – eine Symbiose von Natur, Glas, Beton und Wasser. Sehr empfehlenswert sind deshalb gerade um diese Jahreszeit die ca. 2 stündigen Schiffsrundfahrten um das Regierungsviertel und die Museumsinsel, die sich im oben geschilderten Farbenspiel völlig anders präsentieren, als im Frühjahr oder Sommer – das Fotografenauge lacht! Auch die vielen noch nicht renovierten Häuser im Scheunenviertel mit den zerfallenen, zerbröselnden Fassaden werden durch das farbenprächtige wilde Buschwerk, das sich in den Mauerritzen angesiedelt hat, gewaltig „aufgehübscht“ – manchmal sieht es so aus, als hielte nur die wild gewachsene Natur die desolaten Häuser noch zusammen.
Die ganze Pracht war Anfang / Mitte November vorbei, als Minustemperaturen und Herbststürme die Bäume schlagartig entlaubten und die Berliner Müllwerker die Überbleibsel des Schauspiels unprosaisch in ihre Müllwagen packten und entsorgten. Ziemlich zeitgleich überrascht Berlin seine Bewohner und vor allem seine Besucher mit einem herausragenden „Winterangebot“ an Kunstevents, die Berlin als die europäische Kunsthauptstadt eindrucksvoll bestätigen. Beginnend mit der Art Berlin , der traditionellen Kunstmesse für Moderne Kunst in den Messehallen und weiteren dezentralen Gebäuden in „City West“, präsentiert Berlin den ganzen Winter über eine Vielzahl hochkarätiger und vielseitiger Ausstellungen. Um nur einige zu nennen: Klee und Koons in der Nationalgalerie, Beuys und Warhol im Hamburger Bahnhof, „Bildnisse“ im Noldemuseum, Kirchner im Brückemuseum, Picasso und seine Zeit im Museum Berggruen, dazu spannende Ausstellungen alter Meister und die Antikensammlungen in den Museen der Museumsinsel usw. Im Gropiusbau präsentieren 2 weltbekannte Fotografen 50 Jahre Zeitgeschichte: Robert Lebeck, ehemaliger Stern-Starfotograf, seine Reportagen und Schnappschüsse von 1955 –2005, Richard Avedon, amerikanischer Modefotograf, wunderbare Porträts und kunst- und fantasievolle Modefotografie von 1946 -2004. In beiden Fällen begegnen wir unseren eigenen Erinnerungen, unvergesslichen Ereignissen, berühmten Schnappschüssen, banalen Sensationen – die im kollektiven Bewusstsein meiner Generation tief verankert sind. Dass wir dann zufällig den 80 jährigen Lebeck mit seiner jungen Frau in der Ausstellung treffen und mit ihm unsere Erinnerungen, die er in Fotos konserviert hat, diskutieren können – das ist Berlin! Unsere im Sommerbericht begonnenen kulinarischen Entdeckungen in unserer näheren Umgebung in Berlin-Mitte können wir wie folgt ergänzen:
Das Maxwell in der Bergstrasse feiert gerade seinen 13.Geburtstag mit einem 5 gängigen Geburtstagsmenu für 31,13.-€. Das Restaurant zählt zu den gehobenen Adressen in Mitte und hat seinen besonderen Reiz im Sommer, wenn man in dem wunderbaren alten Innenhof dieser ehemaligen Brauerei sitzen und die Ruhe und Atmosphäre genießen kann. Im Speisezimmer der Sarah Wiener in der Chausseestrasse hatten wir das Glück, am letzten Tag vor der Renovierung die leckeren und relativ preiswerten Weihnachtsmenus probieren zu können. Es handelt sich um ein urgemütliches Restaurant, das mit seinen langen Tischen tatsächlich ein bisschen den Charakter des Speisezimmers einer Großfamilie hat. Wer die südostasiatische Küche liebt ist in Mitte bestens aufgehoben. Im Sommerbericht habe ich schon von der tollen und äußerst preiswerten südchinesischen Küche des Toca Rouge in der Torstrasse berichtet. Heute empfehle ich das Chi Sing in der Rosenthalerstrasse 62. In einem modernen Design wird hier eine vorzügliche, leichte mittelvietnamesische Küche geboten, ergänzt durch die „kreativen“ Mischungen der diversen Shakes.
Wer es deftig und rummelig liebt, der ist in der Ständigen Vertretung am Spreeufer hinter dem Bahnhof Friedrichstrasse bestens aufgehoben. Hier wird rheinische Nostalgie gepflegt, bei Kölsch, Sauerbraten, „halvem Hahn“ und „Himmel und Höll“ – Köln / Bonn lässt grüßen. Auf der anderen Spreeseite in der Friedrichstrasse ist das San Nicci empfehlenswert – ein Tochterbetrieb des Borchardt mit guter italienischer Küche und sehr freundlicher Bedienung. Apropos Borchardt – mein bisheriges Lieblingslokal in der Französischen Strasse hat mich sehr enttäuscht. Ich hatte dort anlässlich eines Klassentreffens für 14 Personen rechtzeitig reserviert und besonders darauf hingewiesen, dass ein Gast im Rollstuhl sitzt. Was passiert? Ohne Vorwarnung und Entschuldigung werden wir in einen Ausweichraum im Keller verfrachtet – der Rollstuhl passte wohl nicht ins gewünschte Schicki-Micki-Image. Hier kann ich nur hoffen: Hochmut kommt vor dem Fall!. Abschliessend zum Thema „Essen“ muss ich aber unbedingt noch die sehr angenehme Einrichtung der (Frühstücks-) Kaffees in meiner unmittelbaren Umgebung erwähnen. Mein Stammkaffee ist das Cafe Lenet in der Torstrasse 178. Die Zwillingsschwestern Hoppe sind beide gelernte Konditorinnen und betreiben bei mir um die Ecke diese liebenswerte und praktische Einrichtung. Die diversen Frühstücksangebote sind vielseitig, reichhaltig und preiswert. Die selbst gebackenen Kuchen am Nachmittag sind jede Sünde wert.
Mein Angebot an meine Geschäftspartner, die morgendlichen Besprechungen mit einem Frühstück im Cafe Lenet zu beginnen, stößt auf immer größere Begeisterung. Sehr beliebt bei jungen Leuten, weil wohl auch ein Flirtspot, ist Barconi`s Deli, das Kaffee einer Kaffeerösterei in Hof 2 der Sophie-Gips-Höfe (Sophienstr.21). Im Sommer sitzt man dort traumhaft zwischen den alten Mauern. Weitere Restaurantempfehlungen werden folgen – die Szene lebt und gedeiht. Zum Jahresabschluss hatten wir das das große Glück, Karten für Aufführungen im Berliner Ensemble, dem ehemaligen Brechttheater am Schiffbauerdamm, zu bekommen. Es lohnt sich, am Tag der jeweiligen Aufführung an der Theaterkasse vorbeizuschauen – wir erhielten jedenfalls sowohl für Kleists im Internet beständig ausverkauften „Zerbrochenen Krug“ (Inszenierung Peter von Stein) gute Karten, als auch für Richard III. von Shakespeare (Inszenierung Peymann). Beide Stücke waren Theaterhighlights – die Inszenierungen verzichteten auf modischen Firlefanz und moderne Verfremdungen, so dass Text und Schauspieler (u.a. Carl Maria Brandauer als Dorfrichter) „ungestört“ im Mittelpunkt standen. Nachdem wir in 2008 sehr gute Erfahrungen mit je 2 Aufführungen in der Schaubühne und dem Berliner Ensemble gemacht haben, werden wir uns in 2009 den übrigen bekannten Sprechtheatern in Berlin zuwenden, zumal das Deutsche Theater, das Maxim Gorki Theater und die Volksbühne am Rosa Luxemburg Platz, alle in unserer unmittelbaren Umgebung in Mitte angesiedelt sind. Natürlich ließen wir es uns nicht nehmen, das alte Jahr in Berlin mit unseren neuen Freunden Dolores und Gerd beim Rock ´n Roll der Radio 1 Silvesterparty im Admiralspalast zu beschließen und das neue Jahr zünftig auf der Spreebrücke am Bahnhof Friedrichstrasse zu begrüßen. In der kalten, klaren Nacht hatten wir zusätzlich das Vergnügen, aus entspannter Ferne das Feuerwerk über der Partymeile beim Brandenburger Tor genießen zu können, umgeben von fröhlichen Menschen aus aller Herren Länder. Im Rückblick auf 2008 hatte ich die Gewissheit, dass meine Entscheidung für ein Büro in Berlin ein großer Glücksgriff war – ein geschäftlicher Erfolg und eine Erweiterung des Horizonts in jeder Hinsicht.
Januar 2009 Klaus Weidner