Berlin 20 Jahre danach – ein Reisebericht
Anlass sind die Feierlichkeiten rund um den 20. Jahrestag des Mauerfalls am 9.11.2009.
Die Stadt wirkt in diesen sonnigen, kühlen Herbsttagen besonders „herausgeputzt“, wozu natürlich die bunten Herbstfarben beitragen, aber auch vielfältigste Events – Eröffnungen, Ausstellungen, Konzerte und natürlich die Vorbereitungen auf die Feierlichkeiten zum 20. Jubiläum des Mauerfalls in Berlin Mitte, rund um das Brandenburger Tor.
Mein Malerfreund Wolfgang aus Mainz und ich besuchen in den Tage rund um das magische Datum 9.11., herausragende kulturelle Institutionen und Veranstaltungen in Berlin Mitte und berichten darüber.
Unser erstes Ziel ist die inzwischen nahezu völlig renovierte Museumsinsel und dort speziell das erst vor wenigen Tagen wiedereröffnete Neue Museum.
Als wir vormittags lange Warteschlangen und unzählige internationale Reisegesellschaften vorfanden, fürchteten wir schon das Schlimmste. Der 2. Versuch am Nachmittag brachte aber eine positive Überraschung – nach höchstens 10 Minuten hatten wir unsere Tickets in der Hand, mit einer garantierten Einlasszeit 15 Minuten später. Der Einlass erfolgt streng reglementiert alle 30 Minuten, man kann sich sowohl über das Internet, als auch direkt vor Ort s.g. Timeslots für den gewünschten Tag sichern und erspart sich so lästige Wartezeiten. Mit dieser Regelung ist auch gewährleistet, dass das Museum trotz des enormen Andrangs nie überfüllt ist.
Nun zur Museumsinsel und dem Neuen Museum selbst. Die Museumsinsel beherbergt das Alte und Neue Museum, die Alte Nationalgalerie, sowie das Bode- und Pergamonmuseum. Dieses einzigartige, historische Kunstensemble aus dem 19. Jahrhundert wurde im Krieg weitgehend zerstört – glücklicherweise waren die Kulturschätze vor der Zerstörung weitgehend ausgelagert. Die Museen beherbergten vor dem Krieg die Zeugnisse der Menschheitskultur von den frühesten Anfängen bis zur Gegenwart. In der DDR-Zeit nur notdürftig oder überhaupt nicht restauriert und gepflegt, begann die Renaissance nach der Wiedervereinigung. Hilfreich war natürlich, dass die Museumsinsel 1999 zum Weltkulturerbe erklärt wurde. 2001 wurden die Alte Nationalgalerie, 2006 das Bodemuseum und im Oktober 2009 das Neue Museum glanzvoll wiedereröffnet.
Bei unserem Besuch der Museumsinsel konzentrieren wir uns dieses Mal auf das Neue Museum. Der englische Stararchitekt David Chipperfield erhielt 1997 den Auftrag, die Kriegsruine, die 40 Jahre Wind und Wetter ausgesetzt war, wiederaufzubauen und so zu restaurieren, dass die originalen Bauteile erhalten bzw. verwendet werden konnten.
Das Ergebnis dieses ambitionierten Auftrags ist ein Wunderwerk alter und neuer Architektur. Der noch vorhandene Klassizismus und Historismus des Gebäudetorsos um 1855 wurde von Chipperfield sensibel restauriert und mit strenger, moderner Architektur ergänzt. Insofern stößt man im Museum ständig auf alte und neue Elemente, die sich vortrefflich verbinden. Ein erster Höhepunkt ist zweifellos die moderne Treppenhalle, die sich, eingefasst von altem Gemäuer, puristisch in strahlendem Weiß präsentiert, tagesbelichtet von 6 Meter hohen Fenstern.
Ein Bummel durch die unzähligen Räume des Museums sind ein ästhetisches Vergnügen – überall mischen sich die historischen Gebäudeteile, Wandbemalungen, Fresken, Friese, ursprünglichen Farben und Formen mit modernen Materialien und Einbauten aus Glas, Beton und Stahl.
„Ohne in Konkurrenz mit den Ausstellungsstücken zu treten, begegnet uns das Neue Museum selbst wie ein prachtvolles Exponat“, haben wir im Vorfeld in einem Bericht gelesen.
Das Neue Museum beherbergt als Schwerpunkt auf 3 Etagen das Ägyptische Museum, sowie das Museum für Vor- und Frühgeschichte mit Objekten der Antikensammlung.
Der uneingeschränkte Star des Museums ist natürlich die unwirklich schöne Nofrete, der ein perfekt ausgeleuchteter eigener Raum gewidmet ist – Ehre, wem Ehre gebührt.
Die altägyptische Kultur wird mit über 2500 Exponaten umfassend präsentiert und bietet einen faszinierenden Überblick über die Hochkultur der Pharaonenreiche von 3 Jahrtausenden.
Mental erschöpft von der geballten Schönheit und Ästhetik der Architektur des Museums und der unvergesslichen Exponate des ägyptischen Museums, widmen wir dem Museum für Vor- und Frühgeschichte nicht mehr ganz die Aufmerksamkeit, die es eigentlich verdient. Hier empfiehlt sich ein zweiter Besuch um den Neandertaler und seine Faustkeile aus der Steinzeit, den Berliner Goldhut, die Ausgrabungen von Schliemann, die Kunst und Kultur Zyperns und Roms etc. gebührend würdigen zu können.
In jedem Fall bietet das Neue Museum kurzweilige, lehrreiche und sogar lustvolle Stunden, die bei keinem Berlinbesuch fehlen sollten.
Wer noch mehr vom Stararchitekten David Chipperfield sehen möchte, muss nur ein paar Schritte über die Spree in den Kupfergraben 10 gehen und findet dort die von ihm gebaute „Galerie am Kupfergraben“. Das 4 stöckige Gebäude zeichnet sich erneut durch eine raffiniert schlichte Architektur der hohen, lichtdurchfluteten Räume aus, die wunderbare Blicke auf die historische Nachbarschaft des Lustgartens und der Museumsinsel bieten.
Anders als in einem Museum hat er Räume gebaut, in denen man auch wohnen und arbeiten kann und/oder Kunst zeigen in einem Stadthaus, das Ein- und Ausblicke bietet.
Die momentanen Ausstellungen von Baselitz und Fotografien von Wim Wenders, in die jeweils Bürobereiche integriert sind, zeigen eindrucksvoll, dass das multifunktionale Konzept des Architekten tatsächlich in der Praxis gelebt wird. Die Ausblicke auf die historische Umgebung wirken wie moderne Fotografien.
Wir fahren mit unseren Fahrrädern weiter durch den Lustgarten, genießen herbstlich farbige Blicke auf die imposanten Gebäude der Museumsinsel hinter uns, den Dom zur Linken und das Deutsche Historische Museum zur Rechten. Der Herbsttag und die eindrucksvollen Gebäude spiegeln sich malerisch im Wasser der Spree.
Auf der riesigen Grünfläche, auf der zu DDR-Zeiten der protzige Palast der Republik stand, begrüßt uns ein Großplakat, das diesen Platz nach dem Wiederaufbau des historischen Schlosses simuliert. Der Wiederaufbau ist zwar umstritten, die Simulation zeigt aber ein harmonisches, geschlossenes Ensemble von Lustgarten, Dom und Schloss, bewacht vom Fernsehturm am Alex – vorwärts, zurück in unsere preußische Vergangenheit!
Ein Besuch im Historischen Museum lohnt zwar immer, momentan aber besonders, da eine Ausstellung „Kunst im kalten Krieg 1945 –1989“ sehr gut zum Generalthema „Mauerfall“ dieser Tage passt und die (ideologische) Auseinandersetzung der Kunst mit der Nachkriegspolitik in Ost und West aufzeigt.
Szenenwechsel – wir fahren zur Eastside Gallery im Bezirk Kreuzberg / Friedrichshain, gegenüber der neuen O2-Arena.
Wir stoßen dort entlang der Spree auf das längste noch erhaltene Stück der Berliner
Mauer (999 Meter). Zwischen Januar und September 1990 wurde diese Originalmauer in einer spontanen Kunstaktion von 118 Künstlern aus 21 Ländern mit großformatigen Wandbildern bemalt und unter Eastside Gallery überregional bekannt. Diese größte Open Air Gallery der Welt dokumentierte die Freude und Euphorie der Künstler, dass die Mauer als Symbol der Unfreiheit überwunden werden konnte.
Obwohl dieses Teilstück der Mauer schon 1991 unter Denkmalschutz gestellt wurde, hatten der Zahn der Zeit, Graffitis, Mauerspechte etc. im Lauf der Jahre vieles zerstört.
Eine Künstlerinitiative initiierte mit Hilfe von Sponsoren eine Restaurierung der Eastside Gallery. In 9 Monaten wurden 99 der ursprünglich 106 Motive wiederhergestellt, 94 der ursprünglichen Künstler aus aller Welt wurden ausfindig gemacht, 87 Künstler haben an der Restaurierung teilgenommen, 17 Bilder wurden nachkopiert.
Soviel zu den nackten Daten – wir hatten das Glück genau am 6.11.09, dem Tag der offiziellen Übergabe der sanierten Mauer, vor Ort zu sein und die Eröffnung mitzufeiern. Wir liefen die ganzen 1000 Meter Mauer ab, sprachen mit den anwesenden Künstlern und vielen Besuchern aus aller Welt, die sich mit uns an den phantasievollen Motiven erfreuten.
Die heute bemalte Seite der Mauer wäre bis 1989 in Friedrichshain, im Osten, als Teil der Grenzanlagen gestanden. Die (heute weiße) Rückseite ist der nahen Spree zugewandt, in deren Mitte die eigentliche Grenze zwischen Ost- und Westberlin verlief. Auf der anderen Spreeseite liegt Kreuzberg, damals definitiv unerreichbar in einer anderen Welt.
Die Eastside Gallery ist somit nicht nur ein eindrucksvolles, fröhliches Gesamtkunstwerk, sondern auch ein kurioses „Denkmal“, das die Besucher an die grausame Teilung der Stadt erinnern soll.
Erneuter Szenenwechsel – wir besuchen den Hamburger Bahnhof in der Invalidenstrasse in Berlin-Mitte, das Museum für Gegenwart, das sich bewusst auf die Kunst seit 1960 festgelegt hat. „Die Kunst ist Super“ heißt das Motto der Neupräsentation der umfangreichen Kunstbestände, die aus den Sammlungen Marx, Marzona und Flick stammen.
Der entspannte Bummel durch diesen weitläufigen ehemaligen Bahnhof bietet den Liebhabern moderner Kunst viele Aha-Erlebnisse: Kiefer, Richter, Polke, Warhol, Rauschenberg, Duchamp u.v.m. sind mit wichtigen Werken spektakulär präsentiert.
Ein ganzer Flügel ist Beuys und seinen Fluxuskollegen Vostell, Nam June Paik, Kaprow u.a. gewidmet. Die Flick Collection zeigt Minimal Art, ebenfalls viele bekannte Künstler und Werke.
Nach so viel Kunst kann man sich im Tagesrestaurant von Sarah Wiener, das in das Museum integriert ist, bei Kaffee und Kuchen oder Currywurst und Weißbier erholen.
Die Berliner Mauer zieht sich durch fast alle unsere Streifzüge, so auch hier. Der Hamburger Bahnhof lag zwar im Westen, aber direkt an der Grenze. Wenn man bewusst die Rückseite des Museum aufsucht, ist man in einer komplett anderen Welt: entlang der Spree stehen noch Mauerstücke, das ganze Gelände wirkt verwahrlost und vergessen. Junge Leute üben sich in Graffitis, ansonsten Unkraut, einsame Trostlosigkeit mitten im Zentrum einer Weltstadt.
Die Rückfahrt führt uns am neuen Hauptbahnhof vorbei, über die Spree durch das prachtvolle Regierungsviertel – welch ein Kontrast.
Abends besuchen wir 2 der herausragenden Sprechtheater der Stadt, die Schaubühne im Westen und das Berliner Ensemble in Mitte. „Kabale und Liebe“ an der Schaubühne war eine interessante, relativ moderne Aufführung des klassischen Schillerstücks, mit puristischem Bühnenbild und Musikern auf der Bühne, die das dramatische Geschehen eindrucksvoll untermalten.
„Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ im Berliner Ensemble war ein absolutes Theaterhighlight! Das noch vom verstorbenen Heiner Müller inszenierte Stück ist zwar ein Dauerbrenner seit vielen Jahren, hat aber dadurch von seiner Faszination und Intensität nichts verloren. Martin Wuttke spielt den Ui (Hitler) absolut sensationell – die Wandlung vom blutrünstigen, primitiven Emporkömmling zum umworbenen Mörder im Frack bleibt unvergesslich.
Ein nächtlicher Bummel durch die Oranienburgerstrasse in Mitte bietet nicht nur eine Auswahl an guten indischen und türkischen Restaurants, er erlaubt auch neugierige Blicke auf Berlins sehr aktiven Straßenstrich, die Dichte an attraktiven Bordsteinschwalben aus aller Herren Länder ist weltstädtisch!
Am Vortag der Feiern zum Mauerfalljubiläum wagen wir uns ins Getümmel um das Brandenburger Tor. Die Atmosphäre ist noch internationaler als sonst, viele junge Leute aus aller Welt scheinen dieses Jubiläum mit uns feiern zu wollen. Das Brandenburger Tor ist abgesperrt, die über 600 Dominosteine, die zwischen dem Potsdamerplatz und dem Reichstag auf dem ehemaligen Grenzverlauf aufgestellt sind, müssen vor den friedlichen Massen geschützt werden. Nach einigen Umwegen kommen wir dann doch sehr nah an diese ca. 2 Meter hohen Dominosteine heran, die von Jugendlichen aus aller Welt bemalt wurden. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass der Mauerfall von den Jugendlichen sehr fantasievoll nachvollzogen und vielfältigst gestaltet wurde.
Mir gefällt diese Aktion sehr, eine kreative Form der Vergangenheitsbewältigung und gleichzeitig eine Art Geschichtsunterricht für diese jungen Leute, der ihnen dieses Jahrhundertereignis spielerisch näher bringt.
Den Besuchern scheint es auch zu gefallen, zumindest sind an diesem kühlen Sonntag im November viele Tausende unterwegs. Ansonsten warten die aufgebauten Bühnen und Leinwände auf die angekündigten Prominenten des nächsten Tages – am Sonntag davor verschandeln sie ein bisschen den Pariser Platz.
Am nächsten Tag öffnet der Himmel alle Schleusen, es regnet während der Feierlichkeiten am Brandenburger Tor, wie aus Kübeln. Die internationale Prominenz aus Politik und Wirtschaft ist gut beschirmt, das überwiegend junge Publikum lässt sich die Laune nicht verderben. Gordon Brown hält überraschenderweise die beste Rede, die altgewordenen Zeitzeugen reden ein bisschen zuviel. Thomas Gottschalk sorgt sich um seine Frisur und wirkt als ernsthafter Moderator fehl am Platz, dann fallen endlich die Dominosteine, wie damals die Mauer. Allgemeiner Jubel, manche sind bewegt, alle sind nass – das Feuerwerk versöhnt und das Brandenburger Tor, unser ewiges Symbol der Freiheit, ist in ein feiertägliches Blau getaucht.
Auf die nächsten 30 Jahre…
Berlin, 9.11.2009 Klaus Weidner