Grundsätzliches zur Reiseplanung
Unsere 9 tägige Busreise beinhaltete je zwei Übernachtungen in Vilnius, Klaipedia, an der kurischen Nehrung, in Riga und Tallinn.
Unsere Reisegruppe bestand aus 23 Teilnehmern, wir wurden von einem deutschen Reiseleiter organisatorisch betreut – inhaltlich war während der ganzen Reise der regionale Reiseleiter Roland S. zuständig, ein in Litauen geborener und im Memelland lebender Ostpreuße mit deutschen Wurzeln. Roland ließ uns während der Reise fachkundig und humorvoll an seinem Leben vor und nach der Wende teilhaben und brachte uns sehr authentisch Historie, Wendezeit und Gegenwart näher – Danke Robert, wir haben viel von Dir gelernt!
Wir erfuhren sehr schnell, dass es ein einheitliches Baltikum nicht gibt. Jedes der 3 Länder hat eine eigene Sprache und Geschichte. Das katholische Litauen war geschichtlich und emotional mit Polen verbunden, Lettland wurde über Jahrhunderte vom Adel des ehemaligen deutschen Ritterordens beherrscht und geprägt, die finno – ugurischen Esten fühlen sich eher als Skandinavier. Alle 3 Länder gehörten von 1945 -1989 zur Sowjetunion und befreiten sich von dieser verhassten Fremdherrschaft durch die „singende Revolution“ vom 23.8.89. Eine singende und tanzende Menschenkette von Vilnius bis Tallin, an der jeder 3. Einwohner teilnahm, leitete1989 die Unabhängigkeitsbewegung ein. 1990 / 1991 erklärten sich zunächst Litauen und danach Estland und Lettland, nur teilweise unblutig, für unabhängig. Nach dem zögerlichen Abzug der russischen Truppen erfolgte erst 2004 der EU -, etwas später der Natobeitritt, bis 2015 wurde in allen 3 Ländern der Euro eingeführt.
Unsere Reise war schwerpunktmäßig geprägt vom Besuch der 3 wunderbaren Hauptstädte, von denen jede eine eigene Geschichte und einen eigenständigen Charakter hat. Die langen Busfahrten durch die flachen und sehr dünn besiedelten Landschaften waren dagegen eher eintönig und zeigten uns den enormen Unterschied im wirtschaftlichen Gefälle Stadt / Land. Während sich die Hauptstädte als wirtschaftlich erfolgreiche, junge, pulsierende Metropolen präsentieren, scheint die Zeit auf dem Land stehen geblieben zu sein. Der Wirtschaftsboykott gegen Russland, nach den Krim- und Ukrainekrisen, trifft vor allem die Landwirtschaft und sorgt dort für Arbeitslosigkeit und Landflucht. Eine Ausnahme macht die „kurische Nehrung“, die heute wieder von einem zunehmenden Tourismus profitiert.
Noch ein paar Zahlen, bevor unsere Reise beginnt. Litauen hat 3 Millionen, Lettland 2 Millionen und Estland 1,5 Millionen Einwohner. Von den Hauptstädten ist Riga mit 650.000 Einwohnern die Größte, es folgen Vilnius mit 550.000 und Tallin mit 450.000 Einwohnern. Es herrscht ein Kontinentalklima mit heißen Sommern und kalten Wintern mit bis zu -20 Grad. Ende Mai hatten wir das Glück, einer sonnigen, warmen Reisewoche, mit ca. 25 Grad Tagestemperatur.
Vilnius
Nach einem langen und mühsamen Anreisetag (Stg – München – Riga – Vilnius) stand eine ausgiebige, sonntägliche Stadtbesichtigung in Vilnius auf dem Programm.
Das Stadtbild der Altstadt ist zunächst geprägt von 50 Kirchen, die an diesem Sonntag auch von gläubigen Katholiken besten gefüllt waren. Weiterhin fällt eine wunderbare alte Bausubstanz auf, die von der Gotik bis in die Neuzeit reicht.
Bei dieser Gelegenheit erfuhren wir, dass die Russen beim Vormarsch am Ende des 2. Weltkriegs zum Glück alle 3 Hauptstädte des Baltikums verschonten und nicht zerstörten, so dass uns unsere jeweiligen Stadtrundgänge immer durch die wunderbaren, architektonischen Originalbauten vieler Jahrhunderte führten.
Die Altstadt von Vilnius ist ein vom Barock geprägtes Gesamtkunstwerk – ich erspare mir die Beschreibung der vielen, sehenswerten Kirchen, muss aber unbedingt die einzigartige und anmutige Backsteingotik der Annakirche nennen. Zusammen mit der benachbarten, schlichteren Bernhardinerkircheaus dem Jahr 1519 ,bildet sie das berühmte „Gotische Ensemble“, das von der Renaissancekirche St. Michael ergänzt wird. Der Kathedralenplatz mit der klassizistischen Kathedrale und dem Großfürstenpalast bildet das einzigartige Zentrum der Altstadt, während die 1579 gegründete Universität eine Stadt in der Stadt ist und die älteste Alma Mater im Baltikum darstellt. Die prachtvolle Bibliothek mit 5 Mio Bänden und 180.000 mittelalterlichen Handschriften konnten wir am Sonntag leider nur von außen bewundern. Immerhin bot das wertvolle, kunstgeschmiedete Portal etwas Trost. Der Besuch eines orthodoxen Gottesdienstes und der von Pilgern verehrten Schwarzen Madonna im Tor der Morgenröte waren weitere Zeugnisse der tiefen Religiosität der Litauer.
Beim Stadtbummel und während der Mittagspause konnten wir die vielen schönen und hoch modisch gekleideten Frauen bewundern und die dazu gehörenden Top-Modegeschäfte, ebenso wie den mediteranen Flair dieser Stadt, der nicht zuletzt von 25.000 Studenten beeinflusst wird.
Auf der anderen Flussseite zeugen auch die modernen, gläsernen Hochhäuser vom wirtschaftlichen Aufstieg dieser beeindruckenden Metropole.
Der Nachmittag brachte mit dem Ausflug zur Wasserburg Trakai aus dem 14. Jahrhundert, einen schönen und entspannten (Foto-) Kontrast zur quirligen Großstadt.
Fahrt zur Kurischen Nehrung
Nach ca. 100 km Fahrt durch die dünn besiedelte Agrarlandschaft Litauens taucht plötzlich mit Kaunas eine weitere interessante Großstadt (300.000 Einwohner) auf, die zwischen 1920 und 1940 sogar Regierungssitz war. Wir stehen erstmals ehrfürchtig an der Memel und spazieren durch den mittelalterlichen Charme der wieder aufgebauten Altstadt. Der Rathausplatz, die Freiheitsallee mit Denkmälern und historischen Gebäuden und die kunstvollen Graffitis bleiben in Erinnerung. Kaunas ist auch heute noch eine europäische Basketballhochburg, die der früheren UDSSR viele Meisterschaften verschaffte.
Nach weiteren 200 km durch eine ziemlich ereignislose Landschaft kommen wir in Klaipeda an, Litauens wichtigstem Ostseehafen und Ausgangspunkt zur Erkundung der Kurischen Nehrung. Das im Krieg völlig zerstörte Klaipeda, das frühere ostpreußische Memel, bringt touristisch wenig – abgesehen von der zauberhaften Skulptur von „Ännchen von Tharau“ des Dichters Simon Dach auf dem Theaterplatz, was uns zu einem ziemlich kläglichen Gesang animierte.
Mit einer Fähre fuhren wir am nächsten Morgen auf die kurische Nehrung. Thomas Mann, der in Nida ein herrlich gelegenes Ferienhaus besaß, schrieb hierüber Folgendes:
„Die Kurische Nehrung ist der schmale Landstreifen zwischen Memel und Königsberg, zwischen dem Kurischen Haff und der Ostsee. Das Haff hat Süßwasser, das auch durch eine kleine Verbindung mit der Ostsee bei Memel nicht beeinträchtigt wird und birgt Süßwasserfische. Der Landstreifen ist ca. 96 km lang und so schmal, dass man ihn bequem in 20 Minuten überqueren kann. Er ist sandig, waldig und sumpfig. Die Farbenpracht (der Dünen) ist unbeschreiblich. Zarteste Pastellfarben in Blau und Rosa, der federnde Boden ist geschmückt mit den feinen Wellenlinien, die der Wind hineinzeichnet.“
Wir haben uns die größte Wanderdüne Europas vom Wasser aus angesehen, die heute mehrheitlich auf russischem Gebiet liegt und sind danach durch malerische Fischerdörfer und Kiefernwälder gefahren. Für ein Badevergnügen an den wunderbaren Sandstränden war das Wasser leider noch zu kalt.
Dieser nostalgische Ausflug in unsere ostpreußische Geschichte an der Ostsee war sehr wichtig und eindrucksvoll – auch Dank einer vielfältigen, blumenreichen und noch weitgehend intakten Natur!
Fahrt nach Riga
Am nächsten Tag standen wieder 300 km Busfahrt auf dem Programm. Wir überquerten die Grenze zu Lettland und besuchten zunächst den (unsäglichen) Wallfahrtsort der Kreuze, wo fromme Pilger Millionen von Kreuzen hinterlassen haben – vermutlich wurden hier auch Millionen frommer Wünsche enttäuscht!
Die Besichtigung des Schlosses Rundale war der touristische Höhepunkt des Tages. Die Sommerresidenz des Herzogs Biron von Kurland wurde 1736 bis 1740 erbaut und ist eines der bedeutendsten Baudenkmäler des Barocks und Rokkokos in Lettland. Das Schloss ist von einem seh schönen 10 Hektar großen, französischen Barockgarten umgeben.
Die Schlossbesichtigung war eine willkommene Unterbrechung dieses langen Reisetages, zumal das heutige Schloss – Museum eine Reise im Zeitraffer von der Gotik bis zum Jugendstil erlaubte.
Der Folgetag in Riga gehörte sicher zu den Höhepunkten dieser Reise. Die größte der 3 Landeshauptstädte sieht sich selbst als die eigentliche Hauptstadt des Baltikums.
Wir näherten uns der Stadt am Vormittag zunächst entspannt per Flussrundfahrt auf der Daugava an. Das Panorama, das sich uns bot, war sehr beeindruckend. Die Neustadt zeichnete sich durch hypermoderne Gebäude aus, z.B. der Nationalbibliothek, die Altstadt auf der anderen Flussseite bot das schon gewohnte Bild vieler Kirchtürme und historischer Gebäude, aber auch eine architektonische Hinterlassenschaft der Sowjets, ein dem Zuckerbäckerstil Moskaus nach empfundenes, dominierendes Gebäude, sowie zum Kontrast einen hypermodernen Fernsehturm.
Den Rest des Tages verbrachten wir in der wunderbaren Altstadt von Riga, beginnend am Rathausplatz, dem Dom, der Oper, der Börse, dem monströsen Freiheitsdenkmal, dem Schwarzhäupterhaus, dem Pulverturm und den „Drei Brüdern“ – prächtigen Wohnhäusern aus dem 15.-17. Jahrhundert, um nur einige Beispiele dieser architektonischen und historischen Vielfalt zu nennen. Riga ist ein sehr lebendiges Architekturmuseum, an jeder Ecke kann der Besucher sein Lieblingsgebäude aus unterschiedlichsten Jahrhunderten und Baustilen entdecken. Besonders erwähnenswert ist das Jugendstilviertel, wo sich Stararchitekten wie Michael Eisenstein prachtvoll verewigten. Bei diesen Rundgängen erfuhren wir zu unserer Überraschung, dass etwa ein Drittel des Stadtzentrums von Riga aus Jugendstilbauten besteht! Auch der aus 5 Hallen bestehende Zentralmarkt ist eine Erwähnung wert. Die Hallen waren früher Zeppelinhangars und beherbergen einen der größten und ältesten Märkte Europas. Besonders beeindruckt waren wir von der Fischhalle – anregendes „visual merchandising“ wird hier mit Fischen und Meeresfrüchten zelebriert.
Die Stadt ist auch geprägt von vielen Handelsbauten aus der Hansezeit, der Einfluss von reichen Kaufleuten ist unübersehbar. Die kleinen, winkligen Gassen sind gleichzeitig auch vielseitige „Fressgassen“ – überall kleine Restaurants, Cafes und leckere Imbissstände. Eine internationale Modewoche mit atemberaubend schönen Models wird angekündigt. Riga bietet sicher auch bei Kunst und Kultur eine Menge, leider lässt eine durchgeplante Pauschalreise keine diesbezüglichen „Abenteuer“ zu und ein Tag Riga ist für diese tolle Stadt viel zu kurz!.
Tallinn
Weitere 300 km nördlich, entlang unendlich langer Sandstrände, erreichen wir den Endpunkt unserer Reise, die Hauptstadt Estlands, Tallinn.
Beim Rundgang durch die historische Ober- und Unterstadt bestätigt sich Tallinns Ruf als „Partystadt“. Die Fähren aus dem nur zwei Stunden entfernten Finnland und die Kreuzfahrtschiffe im Hafen überschwemmen tagsüber die Altstadt mit trinkfreudigen Tagestouristen, die laut, fröhlich und vielsprachig den Fähnchen der Reiseleiter folgen oder sich in der Altstadt volllaufen lassen.
Es empfehlen sich somit die Vormittags- oder Abendstunden, um das wunderschöne Tallinn zu erkunden, dessen Altstadt komplett zum Weltkulturerbe erklärt wurde.
Da wir ein sehr zentrales Hotel hatten, konnten wir einen spontanen, abendlichen Spaziergang in die Unterstadt unternehmen – der historische Rathausplatz gehörte weitgehend wieder den Einheimischen und das gotische Rathaus, nebst gewaltigem Turm, sowie die historischen Häuser glänzten im Abendlicht. In den winkligen Gassen spielten noch einige Straßenmusiker modernen Rock und alte Blumenverkäuferinnen boten ihre letzten kleinen Sträußchen an. Urplötzlich verwandelte ein schnell aufkommender Nebel das ganze historische Ensemble, wie mit einem Weichzeichner, in ein fast unwirkliches, friedliches Szenario, das zum Träumen einlud.
Am nächsten Nachmittag reihten wir uns bei der Besichtigung des Dombergs wieder in den touristischen Kreislauf ein – auf dem langen Herrmann, dem größten erhaltenen Turm aus dem 13. Jahrhundert wehte die estnische Fahne fröhlich im Wind, das Schloss Katharinas II. und die zaristische Kathedrale gehörten zum Pflichtprogramm. Von hier oben bietet sich – quasi als Abschiedsgeschenk – ein unvergesslicher Blick über die Unterstadt mit ihren Giebeln und Gassen und den Ostseehafen, bevor wir wieder den Abstieg zur Partymeile der Unterstadt in Angriff nehmen.
Fazit zur Reise
Das Baltikum ist unbedingt eine Reise wert! Architektur, Natur und Kultur haben uns sehr gut gefallen, auch wenn wir das Gefühl hatten, dass wir aus Zeitdruck vieles nicht gesehen haben.
Nur je ein ganzer Besuchstag pro Hauptstadt ist zu wenig – es bleibt nur Zeit für die ausgetretenen Touristenpfade, eigene Entdeckungen oder Kontakte mit Einheimischen sind kaum möglich, ebenso wenig kulinarische Entdeckungen. Eine Gruppenreise würden wir aus diesen Gründen nicht mehr unternehmen, auch nicht wegen der Unterbringung in lieblosen Touristenhotels, wo Masse vor Klasse galt.. Die morgendliche und abendliche Massenspeisung war ein Graus – italienische und französische „Partisanen“ kämpften mit uns während der ganzen Reise um die morgendlichen Sitzplätze und Aufzüge!
Die meist guten Straßen und ein noch überschaubares Verkehrsaufkommen laden m.E. zur individuellen Reiseplanung und Reise per PKW ein, wobei für dieses Reiseprogramm mindestens 14 Tage eingeplant werden sollten.
Unser Dank gilt der straffen Organisation, den beiden Reiseleitern, dem umsichtigen polnischen Busfahrer und nicht zuletzt der disziplinierten und pflegeleichten Reisegruppe.
Klaus Weidner, Mai 2019